Während unseres Urlaubes in Spanien (2000), wurde meiner Familie ein etwa dreijähriger Pyrenäenberghundrüde übergeben, den Tierschützer aus einem nordspanischen Tierheim befreit hatten.
Dieser Hund war völlig am Ende und konnte nicht verstehen, warum man ihn daran hinderte, in Ruhe zu sterben.
Er war abgemagert bis auf die Knochen, war voller Bisswunden, seine Ohreninnenseiten eine einzige große Wundfläche. Er stand nur wackelig auf den Beinen. Sein ehemals schönes Fell war voller Dreck, verfilzt und man konnte sehen, dass seine Zwingerkollegen ihn mehrfach angepinkelt hatten. Da waren die Zecken, die sich in seine Bisswunden bohrten nicht mehr erwähnenswert.
In engelsgleicher Geduld ertrug er die stundenlange Fellpflege, die wir mit deutscher Genauigkeit ebenso betrieben wie die Versorgung seiner Wunden.
Da wir Tierschützer in Wahrheit unbelehrbare Optimisten sind, (sonst könnten wir die Sisyphusarbeit der täglichen Tierschutzarbeit gar nicht leisten) nannten wir diesen Hund Obelix – schließlich sollte mal ein großer, gemütlicher, wohlgenährter Hund aus ihm werden.
Da es ihm auch am dritten Tag nicht deutlich besser zu gehen schien, machten wir uns auf zu der Tierärztin unseres Vertrauens – Frau Susanna Kapp in Empuriabrava, um schon in Spanien mit der Behandlung der üblichen Zeckenkrankheiten zu beginnen. Wir zeigten bei dieser Gelegenheit auch eine Bisswunde im Maul vor, die nicht besonders gut aussah.
Nach einigen Tagen verweigerte Obelix die Nahrungsaufnahme. Das war nicht verwunderlich, schließlich hatte sein Magen in den vergangenen Tagen viel durch die verschiedenen Antibiotika aushalten müssen; da konnte einem schon der Appetit vergehen. Obelix wurde zwangsernährt d.h. wie ein kleines Kind gefüttert, was er engelsgleich gestattete.
Obwohl dieser Hund ein Wrack war, demonstrierte er doch in den folgenden Wochen immer wieder, dass Herdenschutzhund-Blut in seinen Adern floss. Sobald er nur den Verdacht hatte, irgendetwas Bedrohliches könne sich ereignen, bündelte er seine letzten Reserven, um den vermeintlichen Feind abzuwehren, und da er wusste, dass ihm nur ein Versuch blieb, machte er lieber den ersten Schritt, als besonnen abzuwarten. Wir gewöhnten uns an, Obelix sofort mittels Leine zu verhaften, sobald etwas merkwürdig war.
In Deutschland angekommen, wurde uns bald klar, dass das gesund-heitliche Problem dieses Hundes nicht allein die Zeckenkrankheiten waren. Natürlich hatten sich die Symptome gebessert, aber Obelix fraß nicht. Jedenfalls kein Hundefutter, kein gekochtes Hühnerfleisch, kein noch so gut gemeintes Hundemenü. Obelix fraß Brot, er fraß bestimmte Sorten von Schokolade und gesüßten Joghurt mit selbstgemachter Marmelade – aber nicht zuverlässig. Hatte er gestern noch mit Lust Madeleines in seine Lefzen gestopft, so konnte er sie heute einen halben Meter weit spucken. Einfallsreichtum war gefragt, schließlich musste der Hund zunehmen.
Obelix musste vor allem deshalb zunehmen, da das Ding in seinem Mund zu wachsen angefangen hatte. Wenn es etwas Bösartiges war, dann musste es so schnell wie möglich entfernt werden. Man las sich durch die Literatur der Munderkrankungen und kam zu der Erkenntnis, dass nur eine Gewebeentnahme und deren pathologische Untersuchung uns Klarheit verschaffen sollte.
In lokaler Betäubung, wurde Obelix operiert. Obelix hielt vertrauensvoll still. Nur manchmal wimmerte er ein wenig.
Nach einer Woche erhielten wir die niederschmetternde Diagnose: Obelix hatte Mundkrebs, ein sog. Plattenepithelkarzinom..
Das jedoch sollte nicht das Ende sein, also machten wir einen Versuch und stellten Obelix einer großen, hiesigen Tierklinik zwecks Operation vor. Doch leider lehnte man dort nach einer Ultraschalluntersuchung diese ab, mit der Begründung, diesem Hund sei nicht mehr zu helfen. Der Krebs sei zu weit fortgeschritten. Alle nötigen Operationen und auch die weitere Strahlentherapie, die bei einer nur teilweisen Entfernung nötig sei, stellten eine Tierquälerei dar und seien daher abzulehnen.
Wir waren verzweifelt. Da hatten wir ein Häufchen von einem Herdenschutzhund über Wochen zwangsernährt und gepäppelt wie ein Baby und man konnte sehen, wie es ihm besser ging .... seit einigen Tagen konnte er sogar freudig mit dem Schwanz wedeln ohne umzufallen und jetzt sollten wir ihn einschläfern, besser gestern als heute.
Auch unserem Tierarzt, schien die Idee nicht zu gefallen, den äußerlich sich immer besser zu entwickelnden Hund einzuschläfern und er schlug vor, entgegen aller Vernunft Obelix zu operieren, um dem Hund eine Chance zu geben. Natürlich bestand ein großes Narkoserisiko, aber wir hatten nichts mehr zu verlieren.
In einer mehrstündigen Operation wurde Obelix der Tumor vollständig entfernt. Offenbar hatte der Körper von Obelix versucht, mittels einer großen Entzündungsreaktion den Tumor abzukapseln. Das hatte verhindert, dass der Oberkieferknochen vom Tumor befallen wurde. Die Prognose war nicht so schlecht.
Für Obelix waren gleich mehrere Welten zusammengebrochen, als er damals in dieses Tierheim gebracht wurde. Schließlich hatte er als Herdenschutzhund nicht nur seine Menschen, sondern weit wichtiger sein Territorium verloren. So geht es vielen Herdenschutzhunden in Tierheimen. Ich kenne die Hundegesichter, wenn sie gerade von ihren Besitzer in spanischen Tierheimen abgegeben worden waren. In den Gesichtern der Mastinos und der Pyrenäenberghunde steht das wahre Entsetzen. Für jedes Tier ist es schlimm, abgegeben zu werden, aber diese Hunde verlieren den Sinn des Lebens.
Obelix hatte sich bereits zum Sterben niedergelegt. Mit Eintritt in das Tierheim war sein letzter Vorhang gefallen. Er hatte alles verloren. Erst als er in unsere Familie kam, wurde dieser Vorhang unsanft wieder aufgezogen und Obelix, der schon mit dem Leben abgeschlossen hatte, hat sein Lebenslicht wieder entfacht, da es für ihn wieder einen Sinn hatte. Und sein Körper begann den Kampf mit dem Krebs wiederaufzunehmen, der ihn in der Zwischenzeit befallen hatte.
Kurz vor Weihnachten wollte ich Obelix, der immer noch recht greisenhaft wirkte, vom Tierarzt durchchecken lassen. Vielleicht hatten wir ja etwas übersehen? Doch die Überraschung war groß als der Tierarzt statt mir zu sagen, was dem Hund fehlte, mir folgendes mitteilte: Obelix sei seiner Meinung nach völlig gesund. Obelix sei tumorfrei, alle Blutwerte seien in Ordnung, auch die Lungen und das Herz ........... aber er sei steinalt.
Obelix sei mindestens 10, besser 13 Jahre alt - gerne auch älter. Und da sei es kein Wunder, dass der Hund sich gemessenen Schrittes bewege und sich von den diversen Krankheiten langsamer erhole.
Da Obelix mit diesem biblischen Alter nicht mehr zu vermitteln war, wurde Obelix zum Weihnachtsgeschenk für meinen Mann, der in den letzten Wochen immer ganz still geworden war, wenn man über eine mögliche Vermittlung des Hundes sprach.
Das Glück hielt etwa eine Woche. Dann hatte Obelix große Schwierigkeiten mit dem Wasserlassen. Der Tierarzt diagnostizierte eine Vergrößerung der Prostata, die das Urinieren verhinderte und eine Blasenentzündung.
Wer Obelix kennen und lieben gelernt hat, wird bei diesem Berg von einem duldsamen Schmusehund nicht, ohne wirklich alles versucht zu haben, gleich zur letzten Spritze greifen.
Wir haben zwei Wochen lang gekämpft, täglich mehrfach katheterisiert und noch alles unternommen, was möglich war. Nichts half. Er sprach er auf die Medikamente und Hormonspritzen nicht an. Am 19.01.01 mussten wir Obelix einschläfern lassen.
Wir haben wirklich bis zum letzten Augenblick gewartet ... bis es eben Tierquälerei gewesen wäre. Mein Mann und ich werden uns wohl nie daran gewöhnen können, immer wieder über Leben oder Tod entscheiden zu müssen. Gerade Hunde können Schmerzen gut verbergen, so dass man ihre Beschwerden leicht bagatellisiert und sich etwas vormacht.
Obelix war ein besonderer Hund. Von unseren anderen Hunden wurde er respektvoll behandelt, unsere Katzen himmelten ihn an und die Kinder liebten ihn. Sobald der Besuch sich vom Schreck über seine Größe erholt hatte und die Streichelhände gezückt hatte, war die Welt von Obelix und auch die unseres Besuches wieder in Ordnung. Unser Sohn ging richtig gerne mit ihm spazieren, weil man prima nebenher Gameboy spielen konnte, da Obelix am liebsten „spazieren kroch“. Als Hundeopa hat man es nicht eilig.
Durch seine Pflege war er uns allen besonders ans Herz gewachsen. Zumal er eine extrem angenehme Ausstrahlung hatte. Man konnte ihn wie ein Baby pflegen und natürlich haben wir ihn auch vermenschlicht, was uns bei einem gesunden Herdenschutzhund nicht passiert wäre.
Trotz der relativ hohen Belastung, die seine Pflege mit sich brachte, habe ich mich sehr ausgeglichen gefühlt. Er war wie ein riesengroßes Pflaster, das man sich jeden Tag aufs Neue auf die Seele drücken konnte. Wie ein großväterlicher Teddybär. Er fehlt uns sehr.
Wir haben viel von ihm lernen können, gerade weil er ein alter Hund war. Nach seiner Beerdigung war uns klar: wir würden es jederzeit genauso wieder tun. Dieser Hund war es wert.